Islamismus – Kulturphänomen oder Krisenlösung?

4. November 2004 | Donnerstag | 19 Uhr | Humboldt-Universität | Hauptgebäude

Seit Ayatollah Khomeini nach der iranischen Revolution 1979 den letzten Freitag des Fastenmonats Ramadan zum internationalen Al-Quds-Tag erklärte und alle Muslime zur »Befreiung« Jerusalems und dem Kampf gegen Israel aufrief, finden rund um diesen Tag weltweit Kundgebungen und Demonstrationen statt. Auf die Straße gehen Hizbollah-, Intifada- und Jihad-Sympathisanten, die sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben haben. Wir wollen gegen die antisemitische Al-Quds-Demonstration am 13. November in Berlin protestieren, den Tag aber auch zum Anlass nehmen, um über eine linke Kritik am Islamismus zu diskutieren.

Gegenwärtig verkörpert die muslimische Welt das Anderssein schlechthin. Der Islam wird als homogene und geschichtslose »Kultur« verstanden, die sich durch vormoderne und rückwärtsgewandte Vorstellungen auszeichne und ihre extremste Ausformung im religiösen Fanatismus, dem Islamismus, fände. Dadurch stehe diese »Kultur« mit anderen in einem unüberwindlichen Gegensatz.

Wird der Islamismus aus der Religion – die wahlweise auch »Kultur« genannt wird- abgeleitet und damit aus seinem gesellschaftlichen Kontext gerissen, verkennt man dessen politische Dimension. Dass der Islamismus gerade in Zeiten massiver ökonomischer Transformationen mit all ihren sozialen und kulturellen Konsequenzen einen solchen Aufwind erhielt, wie man dies im arabischen Raum der 1970er Jahre, aber auch in Zentralasien seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion beobachten kann, bleibt ebenso unberücksichtigt wie die Tatsache, dass sich der in die Krise geratene arabische Nationalismus mit den politischen Ideologien des Islamismus verbunden hat. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung von einem homogenen Gemeinwesen, das sich auf vorgeblich »Ursprüngliches« stützt. Im islamischen Staat soll die Gesellschaft vollends aufgehen und weder kulturelle noch soziale Unterschiede mehr kennen. Zum zentralen Bindeglied beider avancierte der Antisemitismus, der der politischen Bewegung einen antihegemonialen Impetus verleiht.

Diese Elemente als »vormodern« zu charakterisieren, verklärt die Moderne. Die Moderne proklamierte zwar den Fortschritt stets als höchstes Ziel, ist ohne den Umschlag in die Barbarei jedoch nicht zu denken, wie sich vor allem in Europa gezeigt hat.

Die These und Proklamation eines »Kampfes der Kulturen« spielt – absichtlich oder nicht – der islamistischen Politik in die Hände, die im Namen islamischer Authentizität ihre Differenz gegenüber der Moderne und dem Liberalismus betont. Im »Westen« dient der Islam als ideologischer Gegner nicht selten zur unumschränkten Apologie der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse. Diese Legitimation der westlichen Staaten weist Analogien zur ideologischen Konfrontation des Kalten Krieges auf.
Als politisches Projekt mit ideologischen Formen kollektiven Bewusstseins kann der Islamismus nicht unabhängig von strukturellen Einflüssen betrachtet werden. Ihn als politische und nicht als religiöse Bewegung zu begreifen heißt, sich mit dessen reaktionären Antworten auf die Krise der kapitalistischen Moderne zu befassen und diese zu kritisieren.

Wird über Islamismus diskutiert, wird er auf der einen Seite häufig als eine zwar unglückliche aber doch verständliche Reaktion auf die Politik der USA und Israels abgetan. Seine Akteure werden als Hoffnungslose, bloß reflexhaft Handelnde porträtiert, die teilweise sogar als Bündnispartner einer gemeinsamen Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse umarmt werden. Die Gewalt des Islamismus implizit rechtfertigend wird nicht gesehen, dass sich der Islamismus zwar selbst als Reaktion darstellt, jedoch eigenständige Antworten auf die Herausforderungen des sich transformierenden Kapitalismus aufweist. Wer den Islamismus aufgrund seines antihegemonialen Auftretens affirmiert, verdrängt entweder seinen politisch reaktionären Charaker oder identifiziert sich mit einer antihegemonialen Position, die jenseits emanzipatorischer Politik liegt.

Positionen, die den Islamismus als antiemanzipatorisch kritisieren, sehen im eliminatorischen Antisemitismus seinen wesentlichen Gehalt. Der Antisemitismus wird dabei entweder aus dem Koran deduziert und damit wiederum religiös erklärt, oder als deutscher Geist gefasst, der in die arabische Welt exportiert worden sei. Politische und soziale Konflikte sowie gesellschaftliche Umbruchssituationen spielen für das Erstarken von Ideologien keinerlei Rolle mehr. Übersehen wird, dass der Antisemitismus nicht nur unter Islamisten, sondern auch und besonders unter arabischen Nationalisten stark verbreitet ist. Der Islamismus hat den Antisemitismus des arabischen Nationalismus in sich aufgenommen, nicht selbst erfunden, und ihm eine neue Dynamik verliehen.

Auf der Veranstaltung möchten wir über Einschätzungen des Islamismus diskutieren, die dessen politische wie ökonomische Entstehungsbedingungen berücksichtigen, ohne rassistischer Stigmatisierung oder autoritärer Sicherheitspolitik das Wort zu reden.

Woher kommt die weltweite Ausstrahlungskraft des Islamismus als Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse und was wird dabei eigentlich als Herrschaft begriffen? Welche Rolle spielt der Antisemitismus in der islamistischen Bewegung? Und auf welche Kräfte kann eine emanzipatorische Linke möglicherweise setzen?

Es diskutieren:
Sabah Alnasseri, Politikwissenschaftler und Publizist, Lehrbeauftragter an den Unis Frankfurt und Kassel, Herausgeber des Buches »Politik jenseits der Kreuzzüge«.
Die Gründe für den Aufschwung des »Islam-Diskurses« im arabischen Raum sieht er in den ökonomischen und politischen Krisen der 1970er Jahre. Die aktuelle Verschärfung der politisch-sozialen Situation könnte seiner Ansicht nach heute jedoch den Übergang zu einer von zivilgesellschaftlichen Akteuren getragenen »post-islamitischen Phase« markieren.
Jochen Müller, Leiter des Berliner Büros von Memri (Middle East Media Research Institute) und Autor der Zeitschrift iz3w. Er betrachtet den Islamismus als religiös gewendete Form des arabischen Nationalismus, der sich als Antwort auf kapitalistische Vergesellschaftung und Kolonialismus entwickelte. Im Antisemitismus zeige sich dieser Nationalismus in seiner radikalsten Ausprägung.

Moderation Kritik & Praxis (KP) Berlin

4. November 2004 | Donnerstag | 19 Uhr
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